Immer wieder heißt es, der Fachkräftemangel existiere gar nicht und höhere Löhne würden das Problem zügig lösen. Vertreter dieser Position ignorieren, dass dem Arbeitsmarkt schlicht Hunderttausende passend qualifizierte Fachkräfte fehlen, Tendenz steigend. Zuletzt fehlten 630.000 Menschen – ähnlich viele Einwohner zählt Stuttgart.

Seit Wochen schwelt eine Debatte über die Ursachen des deutschen Fachkräftemangels. Dabei müssen oft einfache Lösungen für komplexe Probleme herhalten: Verkürzt heißt es dort, einen Fachkräftemangel gebe es nicht, Arbeitgeber müssten bei Löhnen und Gehältern nur tiefer in die Tasche greifen, um diese Stellen zu besetzen. Sogar in manchem deutschen Wirtschaftsforschungsinstitut findet sich diese Ansicht.

Seit Jahrzehnten wird am IW zum Fachkräftemangel geforscht. Mit der IW-Fachkräftedatenbank verfügt das Institut über umfangreiche aktuelle Zahlen, die das wachsende Personalproblem der Unternehmen belegen. Die Daten basieren auf der Arbeitslosen- und Stellenstatistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) und berücksichtigen rund 1.300 Berufsgattungen. Sie zeigen: Im vergangenen Jahr gab es bundesweit im Schnitt rund 1.339.000 offene Stellen für qualifizierte Fachkräfte, aber nur 968.000 qualifizierte Arbeitslose. Rein rechnerisch fehlten dem Arbeitsmarkt somit mindestens 371.000 Fachkräfte. Erschwerend kommt hinzu, dass Angebot und Nachfrage regional sehr häufig nicht übereinstimmen. 

2023 gehen 260.000 mehr Menschen in Rente als Jüngere nachrücken

Deutlich größer wird die Lücke, wenn die einzelnen Qualifikationen berücksichtigt werden: Ein Softwareentwickler kann nicht als Bauingenieur arbeiten und umgekehrt. Unter dieser Prämisse fehlen sogar 630.000 qualifizierte Arbeitskräfte. Zum Vergleich: So viele Menschen leben in Stuttgart. Und das Problem wird nicht kleiner: In diesem Jahr verlassen netto 260.000 Beschäftigte altersbedingt mehr den Arbeitsmarkt als Jüngere nachrücken, Tendenz steigend.

An dieser Lücke würden höhere Löhne allein nichts ändern. Sie können weder kurzfristig dafür sorgen, dass benötigte Qualifikationen entstehen, noch mittelfristig Arbeitsbedingungen und Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt so verändern, dass ausreichend Mobilität entsteht. Stattdessen würden höhere Löhne in Branchen, in denen der Fachkräftemangel besonders groß ist, Dienstleistungen und Waren kurzfristig verteuern, mit drastischen Folgen: Denn die Spielräume sind für die Unternehmen in den letzten Jahren empfindlich geschrumpft. Corona-Pandemie und steigende Preise in Folge des Krieges haben die Kosten erheblich nach oben gedrückt, ganz besonders in der Industrie, die stark vom Fachkräftemangel und den Energiekosten betroffen ist. Zudem droht dann eine Lohn-Preis-Spirale, die die Inflation in Deutschland weiter treiben würde.

Es braucht mehr qualifizierte Einwanderung

„Grundsätzlich gilt, dass Mangelberufe attraktiver werden müssen“, sagt IW-Ökonom und Studienautor Alexander Burstedde. „Viele Berufe, gerade im Handwerk, müssen für junge Menschen zu einer echten Alternative werden. Dazu gehören flexible Arbeitszeiten und die Möglichkeit, Beruf und Privatleben gut miteinander zu verbinden.“ Allerdings reicht das inländische Potenzial nicht aus, so Burstedde: „Wir müssen qualifizierte Einwanderung fördern und in Zukunft mehr, nicht weniger arbeiten. Dafür braucht es auch mehr verlässliche Kinderbetreuung. Nur so lassen sich wichtige Zukunftsprojekte stemmen, nur so werden Ziele in der Digitalisierung und im Kampf gegen den Klimawandel erreicht.“

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