Das Wirtschaftswachstum Lateinamerikas war im letzten Jahrzehnt eher gering. Es betrug zwischen 2011 und 2022 durchschnittlich 1,3 %, weniger als die Hälfte des Weltdurchschnitts von 3,2 %. Insbesondere seit dem Ende des Rohstoff-Superzyklus im Jahr 2014 verlangsamte sich das Wachstum nochmals auf magere 0,5 % von 2014 bis 2022, weniger als ein Fünftel des weltweiten BIP-Wachstums von 2,9 % im gleichen Zeitraum. Somit ist Lateinamerika seit 2014 die am langsamsten wachsende Region der Welt. Dies wird sich nach Einschätzung des Kreditversicherers Credendo auch in diesem Jahr kaum ändern. Erwartet wird zwar ein BIP-Wachstum von 2,5 %, dieses dürfte aber nur von den europäischen Schwellenländern unterboten, die wegen des Ukrainekriegs einen Rückgang um 2,9 % erwarten. Die weiterhin schwache Entwicklung Lateinamerikas überrascht vor dem Hintergrund eines neuen Rohstoffbooms seit Ende 2020 und neuer Preissteigerungen durch den Ukrainekrieg. 

Höhere internationale Lebensmittelpreise kommen der Region zugute. Die meisten Länder sind große Lebensmittelexporteure und erzielen etwa damit etwa ein Fünftel der Leistungsbilanzeinnahmen. Darüber hinaus profitiert Südamerika auch von höheren internationalen Öl- und Metallpreisen (zusammen etwa die Hälfte der Leistungsbilanzeinnahmen). Credendo sieht aber andere entscheidende Faktoren, die das Wirtschaftswachstum belasten. Erstens hat die Inflation, die in den meisten Ländern auf einem 15-Jahres-Hoch liegt, im vergangenen Jahr eine aggressive Straffung der Geldpolitik ausgelöst und somit Kredite, Investitionen und Konsum belastet. Zweitens reduzieren die Regierungen ihre Unterstützung für Haushalte und Unternehmen, während sie gleichzeitig die Investitionen kürzen. Viele Länder der Region haben hohe öffentliche Schuldenquoten und spüren zusammen mit der Straffung der Geldpolitik in den USA den zunehmenden Druck der Finanzmärkte, eine Haushaltskonsolidierung durchzuführen. Drittens bestehen in einigen Ländern politische Unsicherheiten. Die Wählerinnen und Wähler sind enttäuscht über hohe Kriminalitätsraten, als hoch wahrgenommende Korruption und große Einkommensungleichheit. Dies führt zu wachsendem Populismus und Anti-Establishment-Kandidaten, die im vergangenen Jahr gewählt wurden (z. B. in Chile, Peru und Costa Rica). Darüber hinaus bebobachtet Credendo den Wunsch nach einer stärkeren Rolle des Staates in der Wirtschaft, was zu einem steigenden Ressourcennationalismus z. B. bei Lithium, Änderungen im öffentlichen Auftragswesen nach einem Regimewechsel (z. B. in Honduras) und Projektstornierungen nach Protesten führt, insbesondere wenn Umweltanliegen betroffen sind. Diese Entwicklungen beeinflussen sowohl ausländische Investoren als auch das Wirtschaftswachstum. Negativ wirkt sich auch das verlangsamte Wirtschaftswachstum wichtiger Handelspartner wie den USA (durch Arbeitskräftemangel und schnelle Straffung der Geldpolitik durch die Fed) und China (aufgrund seiner Null-Covid-Politik) aus. 

Mit Blick auf die Zukunft werden die Aussichten für das mittelfristige Wachstum von der Fähigkeit der lateinamerikansichen Regierungen abhängen, die strukturellen Reformen umzusetzen, die teilweise seit Jahrzehnten anstehen. Diese werden entscheidend sein vor dem Hintergrund eines möglichen US-Nearshorings – der Rückführung der Produktion und Fertigung von Waren aus Asien näher an die USA angesichts von Lieferengpässen nach der Coronapandemie und dem andauernden Handelskrieg zwischen China und den USA. Besonderen Handelsbedarf sieht Credendo bei der Infrastruktur und tief sitzender Ungleichheit und Protektionismus. Darüber hinaus werden Investitionen in Humankapital wichtig sein, da nach langen Schulschließungen während der Pandemie Bildungslücken entstanden sind. Diese werden negative Auswirkungen auf das reale BIP-Wachstum, Armut, Ungleichheit und Unruhen haben, wenn sie nicht angegangen werden. Schließlich wird die Anpassung an den Klimawandel von entscheidender Bedeutung sein, wie die regelmäßigen schweren Dürren in Paraguay, Argentinien und Brasilien zeigen, aber auch die Tropenstürme und Hurrikane, die Mittelamerika und die Karibik regelmäßig treffen. 

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