ein Impuls von Winfried Prost

Man sagt manchmal, man könne andere Menschen nicht hinter die Stirn, nicht ins Herz und nicht in die Seele schauen, und zieht dann daraus den Schluss, man könne niemandem wirklich vertrauen.

Man kann Menschen aber doch durchschauen! Und zwar sehr tief und sehr nützlich und wirkungsvoll.

Die Techniken dafür sind seit über 2000 Jahren in der abendländischen Psychologie versteckt, und nicht einmal Psychologen haben begriffen, dass dieses Versteck die Dialektik ist. Übersetzt bedeutet dieser Begriff nämlich: Die Kunst, Menschen zu durchschauen. Solches Wissen wurde als Herrschaftswissen entwickelt und gesammelt, aber der Mehrheit vorenthalten.

Für Beziehungen, Gespräche und Verhandlungen wäre es sehr vorteilhaft, sein Gegenüber zu durchschauen. Man kann diese Kunst lernen. Profiler bei der Polizei bemühen sich darum, ebenso wie Google, Facebook und Instagram. Durchschauen kann analytisch, intuitiv oder analog geschehen. Algorithmen deuten insbesondere analog: Sie spüren Einstellungs- und Verhaltensmuster auf und übertragen sie auf neue, analoge Situationen.

1. Wie man schwierige Verhandlungspartner durch Profiling knackt

Wie man das macht und was dabei herauskommen kann, zeigen die folgenden Beispiele:

Beispiel 1: Nach drei ergebnislosen Gesprächen mit einem anderen Geschäftsführer beauftragte uns der Chef einer Firma, sein Gegenüber einmal zu durchleuchten und ihm eine Verhandlungsstrategie für den Umgang mit ihm zu entwickeln. Diese konnten wir aus drei Informationen erfolgreich erstellen: 1. wir fanden von dem Geschäftsführer nur Gruppenfotos im Internet, 2. wir konnten aus zwei veröffentlichten Redemanuskripten herauslesen, dass er stets in der Wir- Form redete: „Wenn wir miteinander…“, „Lassen Sie uns gemeinsam…“, „Zusammen werden wir…“, und 3. dass er neun Geschwister hatte. So rieten wir von vier Augengesprächen mit ihm ab und schlugen vor, ihn mit fünf Mitarbeitern seiner Seite einzuladen und selbst zu fünft aufzutreten und vor allem in Formulierungen zu verhandeln, die wir-betont gemeinschaftliches Handeln in den Vordergrund stellten. In der Tat wurde in dieser Runde bestes Einverständnis erzielt.

Beispiel 2: im Zweifel, ob man sich auf das Angebot eines neuen, bislang unbekannten Geschäftspartners einlassen solle, konnten wir recherchieren, dass er in anderen Zusammenhängen verbal ständig übergriffig agierte: „Dem reiße ich die Eier weg“, „Den köpfe ich“ oder: „Der wird auch nur Angst von mir kommen.“ Wir reden von einer Zusammenarbeit ab. Eineinhalb Jahre später stellte sich heraus, dass er mehreren anderen Firmen sowohl technische Daten als auch die Kundendatei gestohlen hatte, was zu deren Ruin führte. Noch einmal eineinhalb Jahre später erfuhren wir, dass er zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe einsitze. Wir hatten also tatsächlich ernstzunehmende Muster erkannt und zu Recht vor einer Zusammenarbeit mit ihm gewarnt.

Beide Fälle zeigen, dass es oft leicht und auf der Basis nur weniger Indizien möglich ist, Einstellungen und Verhaltensmuster von Personen zu erkennen und künftiges Verhalten treffend einzuschätzen.

2. Gebrauchsanleitung für Mitarbeiter – die Voraussetzung zur Motivation

Gleiches gilt für den Umgang mit Mitarbeitern, Kollegen und auch Chefs im Beruf:

Beispiel 3: Eine Führungskraft fragte mich, wie sie einen Mitarbeiter, der 100 % Leistung erbringe, auch dazu bringen könne 120 % zu leisten. Das sei bei den Kollegen üblich. Auf die Frage, was er über seinen Mitarbeiter wisse, meinte der Chef: „Nicht viel.“ Dann fiel ihm ein, dass der Mitarbeiter Knieprobleme habe und seiner Frau die Teilnahme an einem Tanzkurs verweigert hatte. Ich griff die „Knieprobleme“ spielerisch als Metapher auf und fragte, ob damit auch „Unterwerfungsprobleme“ gemeint sein könnten. Sofort bejahte der Chef und stellte fest, dass der Mitarbeiter aufmüpfig sei, sich nichts sagen lassen wolle und auch im Betriebsrat aktiv sei. Mit der nicht bedrängenden und kooperativen neuen Fragestellung: „Unter welchen Umständen können Sie auch bereit sein, noch mehr Zeit und Leistung für die Firma zu erbringen“, ließ sich dann tatsächlich ein konstruktives Gespräch mit dem Mitarbeiter führen, bei dem er ohne sich unterwerfen zu müssen, selber Vorschläge zur Effizienzsteigerung seines Tätigkeitsbereichs einbrachte.

Beispiel 4: Hinsichtlich einer demotivierten Mitarbeiterin, die sich darüber beschwerte, dass sie am Fließband nur monotone Arbeit leisten müsse und von ihrem Meister ständig sinnlos herum kommandiert werde, stellten wir fest, dass sie in ihrer Freizeit als Trompetensolisten engagiert war. Nach dem ihr Vorgesetzter ihr auch eine spezielle, singuläre Aufgabe übertragen hatte, bei der sie als Solistin glänzen konnte, war sie wie ausgewechselt und bestens motiviert. Zugleich erkannte sie, dass sie sich beruflich weiter qualifizieren müsse, um sich von der Masse abzuheben.

Auch an diesen Fällen wird sichtbar, dass es jenseits sachrationaler Argumentation andere Ebenen in Menschen gibt, die erkannt und berücksichtigt werden müssen, damit man seine Mitspieler persönlich erreichen und in ihrem Verhalten wirksamer beeinflussen kann.

3. Die Macken von Personen im Umfeld verstehen

Im privaten Umfeld ist es eher erlaubt, Leute für „verrückt“ zu halten oder ihre Macken zu diagnostizieren. Auch dabei kann man kräftig danebenliegen, wie die beiden nächsten Berichte zeigen:

Beispiel 5: Eine Frau berichtete, dass ihre eine Oma immer die „böse Oma“ genannt hätten. Als sie gemeinsam tiefer zu schauen versuchten und fragten, warum die Oma den wohl böse geworden sei, stellte sich heraus, dass sie mit 28 Jahren während des Zweiten Weltkriegs ihren Mann verloren hatte und nur mühsam und mit harter Arbeit ihre drei Kinder hatte groß ziehen können. Zudem hatte sie seitdem niemals wieder einen Partner. So konnten wir ihre Stimmung als „durch die Schwere ihres Schicksals bitter geworden“ neu verstehen und die Enkelin empfand erstmals Mitgefühl mit ihrer Oma.

Beispiel 6: Bei einem intelligenten 11-jährigen Kind, das schon seit drei Jahren erfolglos Nachhilfe wegen seiner Rechenschwäche (Dyskalkulie) erhalten hatte, stellten wir fest, dass im Familiensystem schon sein ganzes Leben lang falsch gezählt worden war: Man hatte den Samenspender, durch den es gezeugt worden war, weder erwähnt noch mitgezählt. Da weigerte sich offenkundig das Unterbewusstsein des Kindes an anderer Stelle richtig zu zählen. Die Lösung bestand also nicht in noch mehr Nachhilfe, sondern darin, im Familiensystem richtig zu zählen.

Auch hier zeigen sich hinter der Oberfläche noch tiefer liegende andere Ebenen. So wie bei der Rechenschwäche ist es in vielen Fällen: Objektiv sinnvolle und gute Maßnahmen greifen auf der Oberfläche überhaupt nicht und eigentlich kann niemand verstehen, warum nicht. Entdeckt man dann im Hintergrund auf anderen Ebenen andere Konstellationen und Grundmuster, so zeigen sich plötzlich völlig andere Lösungsansätze, mit denen dann oft sogar sehr kurzfristig gute und wirksame Lösungen zu erreichen sind.

4. Damit man sich nicht für verrückt hält, sondern sich selbst versteht

Ich habe viele Menschen kennengelernt, die gewissermaßen an sich selbst zu verzweifeln drohten, weil sie irgendeine „Macke“ hatten, die weder sie selbst noch sonst jemand verstand, und gegen die sie einfach nicht ankamen. Eine Dame sagte: „Ich komme mir selbst so verrückt vor, dass ich fürchte, ich komme eines Tages in die Psychiatrie.“ Da wir aber niemals darüber aufgeklärt wurden, wie Menschen eigentlich tiefenpsychologisch funktionieren, entstehen auch unendlich viele Missverständnisse gegenüber anderen als auch gegenüber der eigenen Person.

Beispiel 7: Bei einer Dame, die mehrere Jahre mit geringem Effekt verhaltenstherapeutisch gegen ihren Waschzwang behandelt worden war, stellten wir fest, dass es in ihrer Familie eine Verschmutzung Fantasie gab: Ihre Oma war in einem katholischen Dorf mit 17 Jahren unehelich schwanger geworden. Der kleine Junge war ihr weggenommen und zu Verwandten fortgegeben worden. Im Alter hatte sie schwere Depressionen. Meine Gesprächspartnerin war die Tochter jenes Sohnes. Nachdem sie ihrer Oma an deren Grab ausdrücklich mit weißen Chrysanthemen für die Zeugung ihres Vaters gedankt und sie von jeder Verschmutzung freigesprochen hatte, reduzierte sich ihr Waschzwang nach ihren Angaben innerhalb von drei Monaten um 80 Prozent. Es lag ja keine Verschmutzung mehr vor.

Beispiel 8: Eine 35-jährige Frau suchte bei mir Rat, weil sie bislang nur Beziehung Partner gefunden hatte, die zwischen 500 und 3.000 km entfernt lebten, sowie zum Teil noch verheiratet waren. Ich fragte sie nach ihrer Beziehung zu ihrem Ur-Mann, nämlich ihrem Vater. Sie betonte, dass diese Beziehung immer sehr gut gewesen sei und sie dort keine Ursache für ihre merkwürdige Partnerwahl sehen könne. Es stellte sich aber heraus, dass der Vater sich das Leben genommen hatte als sie elf Jahre alt war. Insofern blieb ihr die Sehnsucht nach dem entfernten und unerreichbaren Mann und wurde zu ihrem Suchprofil für Männer. Ein halbes Jahr, nachdem sie ihrem Vater einen harschen Brief geschrieben hatte, in dem sie ihm vorwarf, sie durch seinen Selbstmord verlassen und verraten zu haben, fand sie einen Partner der in der Nähe wohnte.

Das Tragische an den letzten beiden Beispielen liegt darin, dass im ersten Fall die Oma durch einen falsches äußerliches Urteil über Jahrzehnte von ihrer Familie abgelehnt worden war, während die Frau im zweiten Fall sich selbst wegen ihres „verrückten“ Waschzwangs ablehnte. Durch solche Fehleinschätzungen werden schwere Schicksale noch härter. Umso kostbarer ist es, wenn man dann ein richtiges Verständnis findet und entweder annehmen kann, was ist, oder aber noch besser: Eine Auflösung finden und vollziehen kann, die solche Macken tatsächlich beheben. Aus meiner Praxis als Persönlichkeits-Coach kann ich diese Möglichkeit aus vielen erfolgreichen Fällen berichten.

Zusammenfassung

Aus den wenigen hier dargestellten Fällen kann ersichtlich werden, dass nichts im Verhalten von Menschen zufällig ist, sondern dass alles seinen biografischen Sinnzusammenhang hat. Daraus lässt sich einerseits der Impuls ableiten, selbst besser verstehen zu lernen, was bei einem selbst und bei anderen eigentlich im Hintergrund abläuft, andererseits aber auch, genauer hinzuschauen. Das kann sowohl nützlich zum gegenseitigen Verstehen sein, es kann aber auch Unglück vermeiden helfen.

Nachdem ein 48-jähriger Mann sich das Leben genommen hatte, und im Nachhinein sehr deutlich erkennbar wurde, wie viele kleine Indizien eigentlich darauf hin gedeutet hatten, dass es ihm nicht gut ging, fasste ein Verwandter folgenden Vorsatz: Aus Sorge, dass ich bei den Menschen, die mir nahe stehen, deren tiefere und verborgene Leiden übersehe, werde ich jetzt bei jedem einzelnen viel genauer hinschauen und jeden persönlich sorgfältig interviewen, wie es ihm eigentlich wirklich geht.

Winfried Prost
www.winfried-prost.de

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