Was sind die größten Risiken bei Migrationsvorhaben? Welche Abweichungen zwischen Quell- und Zielsystem sind zu erwarten? Was ist noch tolerierbar? Kann ich meine Geschäftsvorfälle für alle Produkte im Zielsystem abbilden? Ein Migrationsprojekt stellt Versicherer vor zahlreiche Fragestellungen. Es verwundert daher kaum, dass die Bestandsmigration oftmals als Mammutprojekt bezeichnet wird. Es ist doch ein komplexes Unterfangen, das personelle wie auch finanzielle Ressourcen über Jahre bindet. Mit einer Migrationsstrategie und einem durchdachten Vorgehen sind diese Herausforderungen jedoch zu meistern. Worauf es dabei ankommt? Ein Einblick am Beispiel der Migration von Lebensversicherungsverträgen.

Gründe und Vorteile einer Bestandsmigration

Gründe, weshalb IT-Systeme erneuert oder vereinheitlicht werden müssen und somit Migrationsprojekte erforderlich sind, gibt es viele:

  • Fusionen und Zukäufe (M&A) führen zu mehreren IT-Landschaften, die parallel laufen und erhöhte Kosten verursachen
  • Bestandsübernahmen führen zu mehreren Bestandsverwaltungssystemen im Unternehmen
  • Umstellung auf moderne, digitale und effiziente Technologien und Systeme ist nötig, um wettbewerbsfähig zu bleiben

…um nur ein paar zu nennen. Eine Migration bietet Versicherern die Möglichkeit, die Geschäftsprozesse und die Vertragsverwaltung für die migrierten Vertragsbestände an die neuesten Information- und Kommunikationsbedürfnisse der Kunden anzupassen und sorgt somit für einen besseren Kundenservice. IT-Systeme mit modernem Technologie-Stack ermöglichen es Versicherern, auf künftige Anforderungen leichter zu reagieren und neue Produkte schneller auf den Markt zu bringen. Darüber hinaus lassen sich in einer konsolidierten IT-Landschaft regulatorische Anforderungen einfacher umsetzen bzw. pflegen sowie Abläufe im Versicherungsbetrieb effizienter gestalten.

Typische Herausforderungen in Migrationsprojekten

Für eine erfolgreiche Migration müssen möglichst alle Daten vollständig und korrekt vom alten Bestandssystem auf die neue Zielplattform übermittelt werden. Wichtig dabei: Kunden dürfen durch die Migration auf keinen Fall schlechter gestellt werden. Genau diese Anforderungen stellen Versicherer vor diverse Herausforderungen:

  • Die Tariflandschaft und Geschäftsvorfälle im Quellsystem müssen analysiert werden. Bei vorhandenen Fehlern im Quellsystem sind zudem Bestandsbereinigungen durchzuführen.
  • Im Zielsystem muss das Projektteam die Abbildung der Tarife und Geschäftsvorfälle analysieren, umsetzen und anschließend durch den aktuariellen Rechenkerntest ausreichend testen.
  • Für die Datenübertragung muss das Projektteam die Datenmodelle analysieren und Mapping-Regeln konzipieren. Die Schwierigkeit hierbei besteht in der häufig unterschiedlichen Struktur und Datenführung zwischen dem Quell- und Zielsystem.
  • Die Schnittstellen zu den Randsystemen (z. B. Inkasso/Exkasso, Provisionen, Briefschreibungen etc.) müssen überprüft und an dem Bestandsführungssystem angebunden werden.
  • Das Migrationscontrolling muss alle Abweichungen von relevanten Prüfwerten zwischen Quell- und Zielsystem einzelvertraglich analysieren. Es ist sicherzustellen, dass alle für den Kunden garantierte Werte auch nach der Migration eingehalten werden.
  • Ein Migrationsprojekt darf das Tagesgeschäft und die Produkt-Weiterentwicklung nicht behindern.

Wie also vorgehen, damit die Bestandsmigration erfolgreich gelingt?

Ablauf eines Migrationsprojektes1. Vorstudie

In der Vorstudie der Migration findet die fachliche Analyse und Feinkonzeption statt. Das Projektteam erstellt eine Projektstruktur und einen Projektplan, der die Meilensteine und den zeitlichen Ablauf festlegt. Basierend hierauf erarbeitet das Projektteam ein Migrationskonzept. Es beschreibt detailliert das fachliche und technische Vorgehen bei der Migration. Dazu gehören:

  • Migrationsstrategie
  • Technische Prozesse (Abziehen der Daten, Laden, …)
  • Migrationsverfahren
  • Migrationswege / Architektur
  • Besonderheiten von Quell und Zielsystemen
  • Besondere Vertragskonstellationen
  • Zusammenspiel mit den Randsystemen
  • Testprozess, Abnahmeverfahren, Toleranzen
  • Projektplanung

Die Wahl der Strategie hängt u. a. von der Komplexität und dem Volumen des Versicherungsbestands sowie von der Art der Bestandsmigration (Run-off vs. mit Neugeschäft) ab. Für die Ablösung eines Altsystems stehen grundsätzlich zwei Migrationsstrategien zur Auswahl:

a. Big-Bang-Migration (Einführung in einem Schritt)

Innerhalb eines festgelegten Zeitraums – häufig an einem Wochenende – wird das Altsystem abgelöst, das Neusystem installiert sowie Systemteile und Daten migriert. Diese Strategie erfordert eine längere Vorbereitungsphase, erleichtert jedoch die Arbeit der Sachbearbeiter.

Tipp: Erfahrungsgemäß ist bei einer Big-Bang-Migration der Druck auf die produktive Migration größer, da sich der Erfolg auf einen einzelnen Migrationstermin konzentriert. Die Vorbereitungs- und Implementierungsphase benötigen im Vergleich zur Tranchen-Migration mehr Zeit, da im Zielsystem zunächst alle Tarife angelegt werden müssen. Aus diesen Gründen ist eine Big-Bang-Migration eher bei kleinen Beständen oder bei Beständen mit einer begrenzten Anzahl an Tarifen zu empfehlen. 

b. Tranchen-Migration (stufenweise Einführung)

Bei dieser Strategie wird der Bestand in mehreren Tranchen aufgeteilt. Das Altsystem wird schrittweise in mehreren Teilen zu unterschiedlichen Zeitpunkten migriert. In diesem Fall laufen für eine Übergangszeit Ziel- und Quellsystem parallel nebeneinander.

Tipp: Es ist wichtig, bereits zu Beginn die Kriterien und die Anzahl der Tranchen festzulegen. Dabei ist auf eine sinnvolle Aufteilung des Bestandes, z. B. nach Tarifen oder nach besonderen Vertragsmerkmalen wie bspw. Dynamiken oder Zusatzversicherungen zu achten. Außerdem sollten frühzeitig die Meilensteine und Migrationstermine für die einzelnen Tranchen festgelegt und dabei auf eine realistische Zeitplanung geachtet werden. Bei komplexen Versicherungsbeständen kann eine Restanten-Tranche eingeplant werden, in welche alle problematischen Verträgen aus den vorherigen Tranchen verschoben werden. 

2. Konzeption

Nach der Vorstudie beginnt die Konzeptionsphase. Das Projektteam richtet die Migrationsarchitektur ein und führt eine detaillierte Delta-Analyse durch. Dabei analysieren sie nicht nur die Quelldaten, sondern bereinigen auch die Bestandsdaten. Es werden zudem die Produkte/Tarife im Zielsystem implementiert und Mapping-Regeln für die Datenübertragung entwickelt. Darüber hinaus baut das Projektteam den aktuariellen Rechenkerntest auf und erstellt die technische Infrastruktur für die Testumgebungen. Damit steht die Basis für den großen Auftritt.

3. Test

Nach der Implementierungsphase findet die Testphase statt. In dieser Phase werden die Tarife und Geschäftsvorfälle getestet. Ein aktuarieller Test prüft die mathematische Korrektheit und Funktionalität. Dabei simuliert der Test diverse Geschäftsvorfälle über komplette Lebenszyklen. Auf den aktuariellen Test setzt anschließend das Migrationscontrolling auf, welches die versicherungstechnischen Werte auf der Basis eines Einzelvertrags massenhaft nachprüft. Nebenbei werden auch die umgesetzten Mapping-Regeln nachgetestet. Ein weiterer Bestandteil der Testphase sind die Schnittstellen- und Integrationstests, die das korrekte Zusammenspiel des Bestandsführungssystem mit den jeweiligen Randsystemen sicherstellen soll.

4. Generalprobe

In der Generalprobe wird der Ablauf der produktiven Migration simuliert. Diese findet in der Regel ein Monat vor dem Durchführungstermin der Migration statt. Dort führen die Beteiligten den gesamten Migrationsablauf genau so aus, wie er für die produktive Migration vorgesehen ist. Es ist wichtig, dass die Generalprobe vollständig und unter den Bedingungen abläuft, die bei der produktiven Migration zu erwarten sind. Mit der Generalprobe wird auch die Tragfähigkeit des Drehbuches geprüft.

Tipp: Es ist wichtig, auf die Einhaltung des Migrationsdrehbuches zu achten. Dabei eignet es sich, die einzelnen Tätigkeiten aus dem Migrationsdrehbuch als Aufgaben-Tickets in einem Test- und Dokumentationstool (z. B. JIRA) zu erfassen, um so den Ablauf der Generalprobe besser nachverfolgen zu können. Außerdem hat dies den Vorteil, dass die zuständige Person für die Folgetätigkeit direkt informiert wird. Bei größeren Migrationsprojekten ist es üblich, auch zwei Generalproben vor der produktiven Migration einzuplanen.

5. Produktive Migration

Nach erfolgreicher Generalprobe erteilt der verantwortliche Aktuar die aktuarielle Freigabe für die Migration. Alle Verträge der zu migrierende Tranche, die im Migrationscontrolling keine Abweichungen mehr aufzeigen, werden in das Zielsystem migriert und anschließend zur Bearbeitung freigegeben. Fehlerhafte Verträge werden entweder in die nächste Tranche verschoben, um sie zu einem späteren Zeitpunkt zu migrieren, oder mit einer Bearbeitungssperre versehen, sofern keine Verschiebung möglich ist (z. B. bei einer Big-Bang-Migration).

6. Nachbearbeitung

Nach der produktiven Migration beginnt die Nachbearbeitungsphase. In dieser Phase werden fehlerhafte Verträge im Zielsystem über Bestandskorrekturen korrigiert. Abhängig vom Migrationsprojekt, kann es vorkommen, dass auch nach der produktiven Migration noch weitere Abweichungen aus dem Migrationscontrolling von den Migrationsaktuaren zu analysieren sind. Sobald das Projektteam die Fehlerursache identifiziert hat, können die nötigen Bestandskorrekturen angestoßen und die Bearbeitungssperre aufgehoben werden.

Der Migrationsprozess

Wie läuft die technische Migration ab?

Der technische Ablauf der Migration basiert auf dem ETL-Prozess, umfasst jedoch neben der reinen Datenmigration noch weitere Schritte:

  • Extrahieren (E)
  • Transformieren (T)
  • Policierung (P) und Fortschreibung (F)
  • Controlling (C)
  • Laden (L)

Alle migrationsrelevanten Daten von zu migrierenden Verträgen werden aus dem Quellsystem des Versicherungsunternehmen extrahiert und in einer Migrationsdatenbank bereitgestellt. Stornierte Verträge sowie im Migrationsjahr ablaufende Verträge werden in der Regel nicht im Zielsystem migriert.

Damit die extrahierten Daten in das Zielsystem übertragen werden können, müssen sie aus dem Quellsystem in eindeutiger Form zur Verfügung gestellt werden. Dies geschieht in der Migrationsschnittstelle. Zur automatischen Befüllung der Schnittstelle wird i. d. R. ein Konvertierungsprogramm benutzt, welches die Daten aus dem Quellsystem ausliest und die Migrationsschnittstelle befüllt.

Die Transformation der Daten, auch Daten-Mapping genannt, erfolgt gemäß festgelegten Mapping-Regeln, die in einem oder mehreren Dokumenten erfasst werden. Je nach Attribut kann die Transformationsregel einfach (1:1 Übertragung oder einfache Umwandlung von Werten) bis zu sehr komplex sein.

Nach Migration des Vertrages im Initialzustand findet zum Migrationsstichtag (Wirksamkeitsdatum, der den logischen Übernahmezeitpunkt des Vertrags im Zielsystem angibt) eine konstruktive Neuberechnung des Vertrages unter Vorgabe von anrechenbaren Werten statt. Anschließend werden die Verträge bis zum Migrationstermin fortgeschrieben.

Im Rahmen des Controllings prüft das Projektteam die Verträge und lädt sie abschließend nach aktuarieller Freigabe in das produktive Zielsystem.

Fazit: Erfolgsfaktoren im Migrationsprojekt

Um eine erfolgreiche Migration durchzuführen, sollten Versicherungsunternehmen…

  • rechtzeitig mit der Vorbereitung / Vorstudie anfangen und die zentralen Knackpunkte angehen.
  • möglichst eine Vereinheitlichung der mathematischen Verfahren schaffen und die Abbildung von Exoten-Tarife im Zielsystem vermeiden.
  • alle Verantwortlichen von Quelle und Ziel (IT, Aktuariat, Prozesse usw.) frühzeitig im Projekt mit einbeziehen, denn nur wenn alle Stakeholder im Projekt involviert sind, kann ein gemeinsamer Erfolg gelingen.
  • Prüfwerte und Toleranzgrenzen im Migrationscontrolling festlegen und die Wirtschaftsprüfer frühzeitig einbeziehen.
  • wesentliche Entscheidungen frühzeitig treffen.
  • Zeitplan und Meilensteine einhalten.
  • Abweichungen zwischen Quell- und Zielsystem nicht bis zum kleinsten Detail analysieren. Vielmehr kommt es darauf an, dass man zwischen Exaktheit und Aufwand abwägt und zudem die Auswirkungen auf den Kunden im Blick behält.
  • ausreichend Zeit für den Test und Migrationscontrolling einplanen: Je früher mit dem Test begonnen wird, desto früher können Fehler identifiziert und behoben werden. Eine längere Testphase verringert somit die Anzahl an potentiellen Fehlern und erhöht die Qualität der Migration.

Treten dennoch unerwartet Stolpersteine auf, die zu starken Verzögerungen im Projektplan führen, dann empfiehlt es sich in diesen Situationen, die gesamte Projektplanung mit einem Review auf dem Prüfstand zu stellen.

Autor

Luca De Conti
Senior Consultant

Luca De Conti hat mehrjährige Erfahrung in der aktuariellen Beratung, insbesondere in den Bereichen Migration von Lebensversicherungsbeständen. Sein Schwerpunkt liegt im Migrationscontrolling.

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